Essay von Nora Huster

“The basis of optimism is sheer terror“

Die Grundlage des Optimismus ist die nackte Angst. (Oskar Wilde)

Wir Nackten – Die Entblößung

Was ist Optimismus? Und woraus entsteht er? Hat Oscar Wilde recht? Ist die Grundlage des Optimismus die nackte Angst?

In ersten Moment dachte ich, dass Wildes Aussage doch komplett abwegig und vor allem kränkend ist. „Die Grundlage des Optimismus ist niemals die nackte Angst.“ Ich dachte mir, dass Oscar Wilde sich nicht als Ziel gesetzt hat einen wahren Satz zu formulieren, sondern sich über die ewigen Optimisten seiner Zeit lustig machte. Eine passendere Übersetzung für „sheer terror“ ist möglicherweise die „bloße Angst“, denn gerade durch die „nackte“ Angst bekommt der Satz etwas Bewertendes. Die Optimisten werden als hilflose Angsthasen bloßgestellt. Doch dann musste ich feststellen, dass ich die Bedeutung des Satzes nur oberflächlich berührt hatte und ich habe mich gefragt, was Optimismus eigentlich für mich und andere bedeutet.

Dabei habe ich festgestellt: Ich bin Optimistin. Ich glaube an das Gute im Menschen und in unserer Welt. Ich bin überzeugt, dass es ein gutes Ende für alle Vorhaben gibt, dass Hoffnungen erfüllt werden. Wahrscheinlich hat Heraklit meine Einstellung mit seinem Zitat „Wenn man nicht auf das Unverhoffte hofft, wird man nicht darauf stoßen, weil es dann unauffindbar und unzugänglich ist“, ziemlich genau auf den Punkt getroffen. Mit anderen Worten: egal wie unheilvoll die Vergangenheit auch sein mag, egal wie viel Stress oder Ärger man gerade hat, in der Zukunft wird es besser. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass meine Zukunft nicht so wird wie ich sie mir wünsche. Mein Verständnis von Optimismus ist folglich relativ simpel. Ich gehe durch die Welt und sehe sie als großes Wunderwerk. Eine ähnliche Einstellung und Weltanschauung entdeckt man in Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausens Schelmenroman „Der abenteuerliche Simplicissimus“ (1669). Simplicissimus lebt ein schelmisches und abenteuerliches Leben mitten im Krieg, und obwohl es manchmal bergab geht, möchte er seinen Lebensstil nicht ändern. Er verändert sich zwar im Laufe seines Lebens, gibt seine Naivität jedoch nie auf. Dieser „naive und simple Optimismus“ lässt sich sowohl in seinem als auch in meinem Leben finden. Er entsteht, meiner Meinung nach, durch das vielleicht dumme Verlangen des Kindes, in einer heilen Welt leben zu wollen.

Eine andere Haltung dem Optimismus gegenüber hat wohl der erwachsene Mensch. Damit meine ich nicht den 18jährigen, welcher vom Gesetz als volljährig erklärt wird, sondern denjenigen der durch Bildung, durch positive und negative Erfahrungen sowie durch Selbstreflexion ein differenziertes Bild seines Ichs gewonnen hat. Dieser Erwachsene bedient sich nicht nur seines Bauchgefühls, sondern auch seiner Vernunft. Er kann durch rationales Denken sich für oder gegen den Optimismus entscheiden. Wenn er sich für eine optimistische Handlung entscheidet, hat er vorher die Folgen seiner Handlungen abgewogen. Ein Beispiel dafür bietet mein Vater: ca. 200 Meter vom Supermarkt entfernt gibt es einen Parkplatz, keiner weiß, ob es nicht evtl. 50 Meter oder genau vor dem Supermarkt noch einen anderen Parkplatz gibt. Also wägt er die Möglichkeiten und die Folgen seiner Handlung ab. Wenn er hier parkt, muss er die schweren Einkaufstüten weiter schleppen und ärgert sich, wenn vor dem Supermarkt doch viele Parkplätze frei sind. Wenn er bis vor den Supermarkt fährt, riskiert er, dass er keinen Parkplatz findet und der erste Parkplatz schon weg ist. Andererseits müsste er die Tüten dann nicht so weit schleppen und seine Tochter würde nicht jammern. Er entscheidet sich also, weiter zu fahren. Er hat sich in diesem Moment eine andere Form des Optimismus zu Eigen gemacht, den „Zweck-Optimismus“. Dieser zielt auf eine bestimmte Wirkung ab und wird offensichtlich zur Schau getragen.

Beide von mir beschriebenen Formen des Optimismus, sind „gesunder Optimismus“. Wenn der Optimismus sich allerdings zum Aberglauben entwickelt, kann man Ihn nur noch als „krankhaften“ oder als „mehr als unvernünftigen Optimismus“ einstufen. Wobei Aberglaube als ein zu allen Zeiten und bei allen Völkern bekannter Glaube an die Wirkung magischer, naturgesetzlich ungeklärter Kräfte verstanden werden soll. Wenn man zum Beispiel denkt: „Wenn ich mich der Angst stelle, dass etwas schiefgeht, geht es alleine dadurch schief“, und wenn man deswegen immer nur das Beste sieht und vor dem Anderen die Augen verschließt, ist das mehr als unvernünftig, weil dabei das Angstgefühl so weit verdrängt wird, dass die Möglichkeit, man könnte scheitern, gar nicht mehr zu bestehen scheint.
Folglich braucht der Mensch die Angst als Schutzmechanismus, auf diesen Punkt werde ich im Weiteren noch genauer eingehen.

Vielleicht gibt es noch andere Formen des Optimismus, die mir nicht bekannt sind. Doch um zu beweisen, dass Oscar Wildes Aussage, “The basis of optimism is sheer terror“ – „Die Grundlage des Optimismus ist die nackte Angst“, zutrifft, reicht es, meiner Meinung nach, die drei von mir benannten Formen des Optimismus auf ihre Grundlage zu überprüfen.

Der „mehr als unvernünftige Optimismus“ hat, wie gerade schon beschrieben, seinen Ursprung in der Angst vor der Angst bzw. vor dem Scheitern. Wir alle kennen diese Angst, sie ist allerdings nur bei wenigen der Anlass für Optimismus, sondern führt immer häufiger zu einer gegensätzlichen Haltung, dem Pessimismus. Pessimisten erwarten also den jeweils unheilbringendsten Verlauf der Ereignisse, in jeder Lebenssituation.
Der „Zweck-Optimismus“, bzw. der Optimismus, welcher aus dem Auseinandersetzten mit der Handlung und den Folgen entsteht, hat seine Grundlage in der Vernunft. Doch was ist die Vernunft? Kant bezeichnet die Vernunft als das Vermögen, Ideen umzusetzen und anzuwenden; wogegen der Verstand darauf beschränkt ist, die Welt bloß in ihrer Vereinzelung wahrzunehmen. Also ist sie die Einsicht, welche man mit Hilfe des Verstandes gewinnen kann und der Verstand etwas, was dem Menschen von Geburt an gehört. Gehört also Angst auch zu diesen Ur-Eigenschaften der Menschen?
Man könnte argumentieren, dass jede Handlung eines körperlichen Wesens ihre Wurzel in der Angst hat, denn die Angst vor der eigenen Vernichtung und dem Tod drängt dieses Wesen zum Beispiel zur Nahrungsaufnahme. Nahrungsaufnahme erfolgt also auf Grund der Existenzangst und alle anderen Handlungen gingen daraus ebenso hervor, unter anderem, weil sie erst nach erfolgter Nahrungsaufnahme in nennenswertem Umfang möglich sind. Das wiederum bedeutet, dass die verstandesgelengte Vernunft auch nur eine Folge der Existenzangst des Menschen ist. Zusätzlich führt diese Art der Argumentation zwangläufig, bei konsequenter Verfolgung, zu zwei Thesen: 1. Die Grundlage des Optimismus ist die Natur des Menschen. und 2. Wenn Menschen keine Angst haben, überleben sie nicht.
Wenn diese Schlussfolgerungen stimmt, habe ich soeben bewiesen, dass auch der „simple Optimismus“ seine Grundlage in der Angst hat.
Trotzdem bin ich nicht überzeugt. Ich möchte die Menschheit nicht als Angst angetriebenes System sehen. Ich dachte auch noch nie, dass meine eigene Haltung ein Produkt der Angst sei. Also was ist dann der Grund für meinen „simplen“ Optimismus?
Ich dachte eigentlich, dass der Grund für meine Einstellung, die Liebe zu meinen Mitmenschen und meinem Leben sei. Jetzt nachdem ich mich ausgiebig mit dem Thema beschäftigt habe, muss ich feststellen, dass der wahre Grund wohl das Fehlen der bloßen Angst sein muss. Ich habe demnach in meinem Leben zwar schon oft Angst gehabt, jedoch noch nicht die von Oscar Wilde beschriebene Angst, die „nackte Angst“ gespürt. Ich habe Angst davor, dass ich meinen Schlüssel verliere oder das ich mich verlaufe, aber die Angst ums Überleben habe ich noch nicht erfahren. Ich bin noch nie wirklich gescheitert oder auf die Nase gefallen. Und genau aus dem Grund bin ich auch keine „wahre“ Optimistin. Nach Wilde ist mein Optimismus kein richtiger Optimismus. Nur derjenige, der die nackte bzw. bloße oder blanke Angst erfahren hat und der trotzdem an das Gute glaubt, hat den Optimismus in seinem ganzen Wesensgehalt erkannt.

Genau mit dieser Thematik hat sich zum Beispiel der italienische Film von Roberto Benigni, „Das Leben ist schön“ (1997), beschäftigt. Um seinen Sohn zu beschützen, erzählt der Vater, Guido ihm, der Aufenthalt im Konzentrationslager sei ein kompliziertes Spiel, dessen Regeln sie genau einhalten müssten, um am Ende als Sieger einen echten Panzer zu gewinnen. Er schützt sein Kind, weil er blanke Angst vor dem Tod bzw. nur der Verletzung seines Kindes hat. Er spielt er den Optimismus vor, obwohl der Zuschauer natürlich weiß, dass ihre Lage hoffnungslos ist. Genau das macht den Film so ergreifend. Man könnte so weit gehen und diesen Effekt als Kontrapunkt bezeichnen. Dadurch, dass das Gegenteil vorgespielt wird, wird die eigentliche Grausamkeit noch deutlicher.
Man könnte mir wiedersprechen und behaupten, dass Guido aus Liebe gehandelt hat. Aber sein Optimismus entstand aus der Angst vor dem Verlust dieser Liebe.

Genau genommen muss man aber erkennen, dass Angst ein viel älteres und stärkeres Motiv als Liebe ist. Diese Behauptung lässt sich gut im historischen Kontext begründen. Bei der Untersuchung der Weltgeschichte stellt man fest, dass es die Angst ist, welche seit unvorstellbar langer Zeit die Menschen veranlasst so zu handeln wie sie handeln. Um nur ein paar wesentliche Beispiele zu nennen:
Warum gibt es Religion und Kirche? Nietzsche sagt, weil der Mensch große Angst davor hat, eine unbegründetes Dasein zu führen.
Warum gibt es Kultur und Gesellschaft? Hobbes sagt, weil der Mensch große Angst um sein Leben hat und in dem Zusammenleben mit anderen Menschen Schutz sieht.
Warum handeln wir so, wie wir es tun? Weil wir mehr Angst vor dem haben, was passieren könnte wenn wir nicht handeln, als vor dem was passiert, wenn wir handeln. Nach diesem Muster lässt sich die ganze uns bekannte Welt analysieren.

Die Konsequenzen die diese Art der Weltanschauung mit sich bringt, findet man verbildlicht in Wildes Märchen „Der selbstsüchtige Riese“. Er stirbt nachdem er den vergleichsweise höheren Wert der Nächstenliebe gegenüber seinen materiellen Besitztümern festgestellt hat. Die Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen lässt den Riesen optimistisch denken, bzw. auf ein gutes Leben nach dem Tode hoffen.

Zusammengefasst erkennt man, dass Oscar Wildes Definition des Optimismus durch das kleine Wort „sheer terror“ bzw. „nackte Angst“ nicht nur einen Wahrheitsanspruch sondern auch Tiefe und Vielschichtigkeit bekommt.
Und um nochmal auf meine Reaktion beim ersten Lesen der Behauptung zurückzukommen, glaube ich jetzt, dass meine Haltung ihm gegenüber so verneinend war, weil er mit seiner Definition des Optimismus meinen Optimismus als dumm bloßstellt.
Oft ist die Wahrheit schwerer zu verkraften, als die Lüge.