Rede Albert Schweitzers in unserer Schule am 3. Oktober 1959
“Nur einige wenige Worte kann ich antworten auf alles, was gesagt wurde, auf alles, was gesungen wurde — in tiefer Ergriffenheit. Es war mir bestimmt als Schicksal, daß ich mich mit dem beschäftigen sollte, was in unserer Zeit vorgeht. Es war mir bestimmt, schon um 1900 betroffen zu werden durch das Abnehmen des Geistes der Humanität in unserer Kultur. Und diesem Problem nachgehend, bin ich denn zur Erkenntnis gekommen, daß das Humanitätsideal, das die große deutsche Philosophie uns gegeben hatte und der ganzen Welt, so, daß wir glaubten, gefestigt zu sein wie in Erz gegossen, daß es kraftlos geworden war in unserer Kultur.
Und dann haben, wir es erlebt, daß der Geist der Inhumanität aufkam, uns überraschte, uns wehrlos machte und triumphierte in furchtbarem Krieg und in Erlebnissen, die wir heute uns überhaupt nicht mehr vorzustellen wagen.
Da habe ich mich gefragt, wie war das möglich ?
Und zuletzt, aus vielen Erwägungen, bin ich dazu gekommen mir zu sagen: es hilft nichts, daß wir den alten Geist wieder wachrufen wollen; das Humanitätsideal erwies sich als zu schwach, weil die Ethik, auf der es beruhte, keine tiefen und großen Wurzeln hatte. Das Humanitätsideal ist eine Weltanschauung, und die Ethik war noch keine Weltanschauung, sondern war nur die Vorstellung von dem geistigen Verhältnis, das zwischen den Menschen bestehen sollte. Es kam mir immer vor, als ob die Ethik ein Akkord wäre, der in der Luft hing.
Wie wird die Ethik zu einem Fundament der Weltanschauung? Wenn sie sich auf die ganze Welt bezieht, wenn sie unser geistiges Verhältnis zur Welt bildet und aufbaut. Das tut sie nur, wenn sie uns zeigt, wie wir mit allen Wesen in Verbindung stehen Wie die Woge in dem Meere mitwogt mit allen Wogen, müssen wir das Leben, das um uns herum sich abspielt, das in Not ist, das in Angst lebt, mit erleben in unserem Leben. Dann haben wir eine Ethik die eine Weltanschauung bedeutet und tragen kann. Und so wagte ich denn den Gedanken auszusprechen, daß die Grundvorstellung, auf der das Gute beruht, die Ehrfurcht ist vor allem Leben, als dem großen Geheimnis, in dem wir uns mit der ganzen Kreatur befinden.
Dann habe ich mich gefragt: wie wird das einmal sich können unter den Menschen verbreiten, was wir in unserem Zustand so notwendig haben, um wieder das zu werden, was wir einst werden wollten, eine Kulturmenschheit ?
Und in der Ferne lebend, habe ich das Schicksal der Völker die jetzt aus der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit kommen und sich selber geistig auch entwickeln müssen, mir vorgestellt und mich gefragt: woraus werden denn diese zu einer Kultur, wo wir in der Kulturlosigkeit leben ? Und immer wieder habe ich mir gesagt, sie müssen etwas von uns empfangen denn wir haben eine große geistige Vergangenheit, die nicht ausgelöscht werden kann, auch nicht durch das, was sich nun ereignet hat, sondern wir aus der alten Welt haben allen Völkern der neuen Welt zu helfen. Wir haben ihnen Leben zu bringen und nicht inner nur von ihnen zu nehmen.
Und da habe ich mich gefragt, wie kann denn diese Ethik sich einmal in der Welt durchsetzen und zu einem Fundament für eine Weltanschauung werden ?
Aus einer deutschen Schule kam die Antwort.
Da fragten einige Lehrer an, ob sie ihre Schule Albert— Schweitzer—Schule nennen könnten. Nun, warum nicht, habe ich gedacht, wenn es ihnen Freude macht. Der Schule habe ich dann gedankt und habe geschrieben: mögen alle Schüler, wenn sie später an ihre Schule zurückdenken, in Dankbarkeit der Lehrenden gedenken, wie ich meinen Lehrern im Gymnasium in Mühlhausen mein Leben hindurch Dankbarkeit für alles bewahrte, was ich von ihnen empfangen habe. Mögen die, die an dieser Schule zu lehren das Privileg haben, nicht nur Kenntnisse vermitteln, sondern auch in der Entwicklung zum Menschen wahre Erzieher sein. — Also gut, das schrieb ich. — Bald kam eine andere Schule, bald drei, bald fünf, bald sieben — und immer schrieb ich dies. Bis ich mir plötzlich sagte: aber das ist ja der Weg! Über die Schule wird es gehen! Schon in der Schule muß die Jugend bekannt werden mit dem Gedanken der Ehrfurcht vor allen Lebendigen. Dann wird sich ein Geist entwickeln können, der von ethischer Verantwortung getragen ist und viele Menschen ergreift. Dann dürfen wir uns eine Kulturmenschheit nennen.
Und da bin ich nun in Eure Schule gekommen.
Ich werde Euch immer dankbar sein, daß Ihr mich das hier heute erleben ließet, statt etwa einfach eine Führung durch Eure Räume zu unternehmen und eine Aufzählung von den und jenen Vorteilen des Hauses. Das habe ich nämlich schon oft erlebt: dies hier ist der Musiksaal und das ist die Turnhalle. Als mir die Einladung wurde, nach Hamburg zu kommen, da habe ich zugesagt und ich dachte, man werde mich auch hier durch die Schule führen.
Es ist ganz anders geworden. Ich bin mit ihrem Geist bekannt geworden. Ich durfte es erleben, ausgesprochen zu hören, was ich dunkel gewollt und dunkel erhofft hatte. Und so wird es mir ein Erlebnis bleiben, daß ich Bekanntschaft gemacht habe mit der Albert—Schweitzer—Schule in Hamburg und ich bin dankbar, daß ich das erleben durfte. Und es wird mich ermutigen; denn wenn man ein Leben führt wie ich, braucht man Ermutigung. Es ist ermutigend, daß man weiß, es gibt Menschen, die dafür leben und unbeirrbar dafür kämpfen, daß der Geist der tiefen Ehrfurcht vor allem Lebendigen bestimmend wird unter den Menschen und daß Idealen gefolgt wird, die uns aus unserer Zeit hinausführen in eine neue Zeit hinein. Daß die Schule an diese Ideale glaubt, und daß sie in ihnen lebt und daraus lehrt, das habe ich in dem, was gesagt wurde und wie es gesagt wurde und wie ihr musiziert habt, erleben dürfen.
Tausend Dank! Ich möchte keinen Augenblick von diesen Erlebnis vermissen.”
(Nach einer vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschrift)